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Smile, though your heart is aching

smile

Ich arbeite zuhause, was alle Paketboten wissen, weshalb sie, wenn sie Pakete für die Nachbarschaft haben, bei mir klingeln. Ich laufe ihnen die Treppen entgegen, damit sie die Stufen bis zu mir im zweiten Stock nicht gehen müssen. Ich sehe da nicht nur meine Stufen, sondern sehe meine Stufen als Teil aller Stufen, die sie an einem Tag nehmen müssen. Nicht alle Leute sind so nett und schnell wie ich, manche wohnen im sechsten Stock und kommen nicht auf die Idee (und nicht etwa, weil sie krank, zu alt wären) dem Paketboten auch nur eine halbe Treppe entgegenzugehen.

Vorgestern kam der Hermes-Bote, in keiner Weise dem Gott Hermes gleichend: ein dicklicher, älterer Mann, dessen türkis-graue Uniform viel zu eng sitzt und mal wieder gewaschen werden könnte. Er bringt ein Paket für die Nachbarin, ein Paket von Amazon, was ich sofort am Pfeil, am Lächeln auf der Packung, am lächelnden Pfeil erkenne. Ihm selbst war nicht nach lächeln zumute, er sagte, er habe heute schon vier große Möbelpakete in den sechsten Stock schleppen dürfen, hin zu einem jungen Mann, der nicht ein bisschen mit angefasst hatte, sondern ungeduldig wartend in der Tür stand. Ich nahm das Paket entgegen, legte es in meiner Wohnung ab und betrachtete den lächelnden Pfeil, so wie ich ihn immer betrachte: ein wenig kritisch von der Seite oder wie in ihn hinein zoomend.

Ich weiß ja nicht, wie es bei Ihnen ist, aber ich sympathisiere leicht, und meine Spiegelneuronen sind sehr intakt. Ich lächele, wenn ich angelächelt werde. Etwas in mir lächelt, wenn Diktatoren lächeln. Etwas in mir erwidert auch das Lächeln von Pappkartons. Es ist aussichtslos, ich habe mich nicht im Griff. Ich lächele unsichtbar, aber ich lächele, wenngleich ich kein Interesse daran habe, von einer Pappverpackung zum Lächeln gebracht zu werden.

Ich stehe also im Flur, wo das Paket für die Nachbarin liegt und starre es an. Ich fasse es in den Blick, wann immer ich daran vorbeigehe. Ich glaube, ich bin darauf aus, das Lächeln in jenem Moment zu erwischen, in dem es nachlässt, in dem es sich lockert, in dem es seine Muskeln entspannt und sagt: Okay, erwischt, ich lächele natürlich nicht die ganze Zeit. Wie sollte das auch gehen? Ich möchte durchaus, dass niemand in meiner Gegenwart lächeln muss oder sich professionell geben. Das gilt auch für Verpackungen, für Logos, für lächelnde Logos zumindest, die versuchen, mir, indem sie mein Gesicht und dessen Ausdrucksmöglichkeiten nachahmen, nahzukommen. Ich starre auf das Lächeln, als versuchte ich, den Karton zu durchdringen, zu erspüren, wie es ihm geht. Ich tue das eher versehentlich als absichtlich. Ich schaue in etwa so, wie ich meinen großen Sohn anschaue, wenn er sagt, dass alles in Ordnung sei, ich aber sehe und spüre, dass das nicht stimmt. Ich lauere ein bisschen, dränge ihn aber nicht, mir sofort zu erzählen, was ihn beschäftigt.

Auch der Karton mit dem Lächeln verrät mir nicht, wie es ihm geht.

Das Lächeln ist ein Pfeil von A nach B, aber A und B meinen keine konkreten Ziele, es geht hier um das schiere In-Bewegung-Sein von irgendwo nach irgendwo, der Weg ist das Ziel, nur anders, das ist ja kein weise lächelnder Pfeil. Es ist ein eingefrorenes Lächeln, ein ikonisch gewordenes Symbol, der Nike-Swoosh plus Service-Grinsen. Das Lächeln ist überall. Ich sehe es aus Altpapiertonnen ragen, Leute tragen es von der Post nach Hause oder tragen es zurück zur Post, wenn sie ein Produkt umtauschen. Es fährt als Teil einer großen Werbefläche auf der städtischen Straßenbahn herum, es lächelt auf zur Wiederverwendung aufbewahrten Umschlägen in meinem Regal. Es zeigt sich auf ca. einem Drittel der Pakete, die im Wagen des DHL-Kuriers liegen, der meinen Namen kennt, dessen Namen ich nicht kenne. Ich weiß jedoch, dass er seit kurzem einen Hund hat und den letzten Sommerurlaub mit Frau und Hund in einem Haus am Balaton in Ungarn verbracht hat. Ich schaue im Vorbeigehen in seinen Lieferwagen, wir grüßen uns, ich frage, was er von diesen lächelnden Paketen hält. Er steht rauchend im Inneren, diese Zigarette ist sein Frühstück, sein Mittag, sein Gespräch mit einem Kollegen. Keine Ahnung, sagt er auf meine Frage. Er zuckt mit den Schultern. Die müssen halt ausgeliefert werden. Und die hier, er zeigt auf die lächelnden Pakete mit Aufdruck Prio, müssen heute noch raus. Lange, sagt er, mache er diesen Job nicht mehr. Ich nicke. Aber was machen Sie dann? Er zuckt wieder mit den Schultern. Mir was Besseres suchen. Er sagt, man wolle bei DHL demnächst für fairere Arbeitsbedingungen streiken. Ich sage: Ich bin sehr dafür. Ich sage auch, er könne sich jederzeit Protestliteratur bei mir ausleihen. Eine nicht geringe Menge der Protestliteratur, die sich in meinem Regal befindet, hat er mir gebracht, hat mir die Bücher in einem lächelnden Umschlag übergeben. Spätestens das ist der Moment in diesem Text, in dem Alanis Morrissette „Isn‘t it ironic, don‘t you think“, singen sollte. „A little too ironic. Yeah, I really do think.“

Ach, dieses Lächeln. Es lässt mich an Personen denken, die zwanghaft lächeln, egal, was man ihnen erzählt: sie lächeln, sie lenken vom Thema ab, lächeln über etwas hinweg; verwundete, hoch nervöse Geschöpfe. Oder Personen, die eiskalt über etwas hinweglächeln, die ihrer eigenen Agenda folgen und das Lächeln nur den Spiegelneuronen ihrer Betrachter*innen liefern, während sie Dinge verhandeln und umsetzen, die niemanden lächeln lassen würden. All diese lächelnden Verpackungen suggerieren gute Laune und gute Nachrichten um jeden Preis. Oder all diese lächelnden Verpackungen haben soeben einen Witz erzählt und warten lächelnd darauf, dass man lautstark mit ihnen lacht. Das Lächeln, dieses Lächeln der Verpackungen, kommt mir wie emotionales Photobombing vor. Egal, wie es mir oder irgendwem geht, egal, wie groß die Katastrophe ist, egal, wie neutral ein Moment: Ein Lächeln war zugegen. Wie konnte das denn passieren?

Dieses Lächeln macht mich fertig. Dieses permanente Lächeln macht einen Teil von mir fertig, ich verstehe wirklich nicht, wie das Lächeln einfach nicht vergehen kann. Genau genommen weigere ich mich, das Lächeln eine stehenden Wendung, ein Symbol, ein Markenzeichen etc. sein zu lassen. Ich habe irgendwann einfach angefangen, das Lächeln zu sehen, es persönlich zu nehmen, es zu beleben, mich anlächeln zu lassen und seitdem misstraue ich dem Lächeln zutiefst.

Vor kurzem habe ich begonnen, die Verpackungen umzudrehen. Ich habe versucht, das Symbol aufzulösen, das Symbol zu verwandeln. Es dauerte eine Weile. Immerzu sah ich das Lächeln. Dieses Lächeln ließ sich nicht davon irritieren, auf den Kopf gedreht worden zu sein. Jeder Smiley ändert seine Stimmung bereitwilliger. Es brauchte eine Weile. Ich musste dieses Lächeln wieder verlernen. Ab und an halfen meine Kinder, malten ein oder zwei Augen über den nach unten gezogenen Pfeilmund. Ein Pfeil übrigens, der dann von B nach A führt. Und ja, aus dem Lächeln, diesem ikonischen Lächeln, das anfangs unverkennbar wie die Mona Lisa auch verkehrt herum ein Lächeln blieb, wurde ein säuerlich verzogener Mund, und der Pfeil ist nun eine Bewegung zurück in der Zeit.

Ein guter Freund übrigens hat ähnliche Probleme mit dem Lächeln wie ich. Er arbeitet nebenbei und meistens nachts bei DHL und sieht dort Nacht für Nacht Tausende der lächelnden Pakete. Er hat es sich zur Gewohnheit gemacht, diese Pakete so auf das Förderband zu legen, dass sie an der nächsten Station nicht lächelnd, sondern verkehrt herum ankommen. Er und ich lachen wahnsinnig gern, aber dieses ignorante Lächeln reibt uns auf, wir wollen diese Fußnote, diesen Kommentar, diesen lächelnden Subtext nicht. Wir lächeln selber, wenn wir wollen.

Beitrag, der in veränderter Form in The Believer erscheinen wird.

Buch und Bücherei Der Tod und sein Rädchen

Mit Toten schimpfen

Verärgert, tatsächlich verärgert, und dazu: Ich nehme es persönlich, stelle ich fest, dass Helga M. Novak gestorben ist. Ich glaube, ihr Tod ärgert mich genauso, wie mich zum Beispiel Mahnungen ärgern, deren zugehörige Rechnungen schon lange auf meinem Schreibtisch liegen, die ich einfach aus Unlust oder Ignoranz oder Vergesslichkeit nicht bezahlt habe. Ich ärgere mich wie über etwas, das ich getan habe oder nicht getan habe, obwohl nun gerade und vollkommen offensichtlich das Gegenteil besser gewesen wäre, über etwas, das ich besser weiß. Oder ist das doch der Ärger über den Tod, diesen Besserwisser, der jedem ins Wort springt. Oder ich ärgere mich über die nun Tote persönlich, als würden meines Erachtens andere sterben, aber sie doch nicht. Wirklich, der Tod von Helga M. Novak ist über alle Maßen ärgerlich.

Buch und Bücherei Der Tod und sein Rädchen

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Und die schlimmen Dinge kommen daher wie Witze, weshalb man lachen muss, oder ich muss lachen, oder es ist der dringende Wunsch: lieber lachen als weinen wollen. Oder wie ist es.

Ich kann mich, weil mir der Zugang zu vielen Erinnerungen versperrt ist, weil ich ihn selbst versperrt habe, ohne dafür besondere Gründe nennen zu können – lediglich Zeitmangel, alle Zeit wird von den Kindern gegessen, die ja nicht hungern wollen und sollen, aber doch schon dicke Backen haben, vor allem F (1), der an Dickbackigkeit kaum zu übertreffen ist – jedoch an nichts Schlimmes erinnern. Nichts fühlt sich schlimm an, alles fühlt sich so an, als hätte sich nichts je schlimm angefühlt. Ich muss eine andere geworden sein.

Jedenfalls sind wir auf dem Berg: Casa Baldi, Olevano Romano, und ich fand im Schrank diesen Hefter, ordentlich mit Etiketten und Schreibmaschinenschrift gekennzeichnet, drinnen Kinderbilder von irgendwelchen anderen Stipendiatenkindern. Der Ordner so ein Stipendiatenhausrelikt, irgendein Rest, weil hier überall Reste sind (Nähgarn, fast leere Klebefilmrollen, ausgedruckte Brigitte-Rezepte, ausgedruckte Gedichte von einem Vorstipendiaten), aber der Ordner ist mit einem dicken Edding-Kreuz markiert, und ich fragte mich, nachdem ich vor ein paar Tagen mit K zum Friedhof spaziert war, wer dieses Kreuz aufgemalt hatte, wie es aufgemalt wurde, wie man so ein dickes Edding-Kreuz also malt, und wie man sich dabei fühlt.

Man kann ja einfach ein schwarzes Edding-Kreuz malen. Ich denke, ein Kind hat das Kreuz gemalt, das ist das Kreuz einer Kinderhand oder einer Hand, die für das Kreuz zum ersten Mal einen Edding in die Hand nahm.

Man kann deuten und nicht deuten. Entweder man will deuten oder man will nicht deuten. Derzeit deute ich nicht gern, aber ich könnte. Jedenfalls las ich „Das Begräbnis“ von Wolfdietrich Schnurre, und der Text funktioniert wie ein Witz, aber ist kein Witz oder ein makabrer. Man könnte also alle Zeit auf die Pointe warten, aber die kommt nicht, da quietscht nur eine Tür am Ende und der hinkende Pfarrer tritt auf oder ab.

Und hier treten auf der Sturm und die Arbeit, die zu tun ist.

 

 

 

 

 

 

Der Tod und sein Rädchen

Der Tod ist ein Pirat

Die Nachbarin, die immer brüllt, brüllte ihr Enkelkind an: Komm endlich rein oder willst du dir den Tod holen. Und wir spielen nachher: den Tod holen/einen Tod holen. Der Playmobil-Pirat steht in der Feuerwache und ruft: Wo ist der Tod. Ich will einen Tod holen, aber ich sehe keinen. Es tritt auf der Eisbär, der insgeheim eine Bergziege ist, jedoch kein Tod, so dass es dem Piraten vorerst nicht gelingt, sich einen Tod ins Haus zu holen oder locken, so dass nun entschieden wird, der Pirat müsse der Tod sein.  Jedenfalls ist der Tod ein Pirat mit nackten Füßen, und wenn man seine schwarze Frisur vom Kopf nimmt, sieht man deutlich: der Tod hat ein großes Loch im Kopf, was schon hinkommt, weil man sich so den Tod vorstellen kann, wenn man etwas gegen ihn hat und gegen alles andere auch, aber sicherlich ist der Tod einer, der solche Vorstellungen und Manöver auch nur belächelt, auf seine Art, also gänzlich unwesenhaft und still.

Der Tod und sein Rädchen

Anfang/Ende

Ich sah auf aus der Arbeit, und das muss umbenannt werden, weil es gar kein Aufsehen war, sondern nur das zeitgleiche Drücken der Apfel- und Tabulatortasten, bis das Firefox-Icon markiert war, und Loslassen der Tasten, also gar kein Aufblicken, sondern Weiterstarren, und das Starrzentrum war auf nichts vorbereitet, da sah ich das:

Ich sagte Oh nein, was sich besser sagen als schreiben lässt, weil es geschrieben nicht das ist, was es gesprochen und gefühlt ist, so wie Tränen geschrieben nie das sind, was sie geweint sind, es sei denn man hätte allen Mut gewonnen und alle Freiheit oder hätte im anderen, im schlechten Fall, denen schließlich Glauben geschenkt, die meinen, man nenne etwas nur Kitsch, weil man sich einer Wirkung versperre, sich der eigenen Öffnung in den Weg stelle, also dem eigenen Herzen Schotter vor die Herzensbeine werfe, so dass das Herz behindert werde. Aber diese und jene sind genau genommen innerlich und reden hier schon rein, immerzu muss man achtsam sein. Also sagte ich Oh nein und hatte damit nicht gerechnet, ich hatte einfach nicht damit gerechnet, diese Meldung zu lesen, denn ich hatte nicht mit der Sterblichkeit der CW gerechnet, ich bin mit der Berechnung der Sterblichkeitswahrscheinlichkeit anderer Leute beschäftigt oder rechne vielleicht gar nicht, sondern gehe von einer bestimmten Sterbensreihenfolge aus, ganz unwillkürlich oder manisch im anderen Fall. Es gibt die Todesfälle, mit denen zu rechnen ist, und es gibt die Todesfälle, die immerzu befürchtet sind und bleiben.

Ich machte ein Bildschirmfoto und hatte zuvor nicht CW gelesen, sondern Katja Kullmann, den Anfang von Echtleben: „Ich bin eine von den Leuten, die ständig Fotos machen. Meine Digitalkamera hat einmal 89,90 gekostet, hat ein schwarzes Gehäuse, ein paar Funktionen, die ich nicht verstehe, und einen Pixel-Grad, den ich immer wieder vergesse, denn er ist mir völlig gleichgültig. […] Wann immer ich glaube, einen Fetzen Wirklichkeit vor Augen zu haben, der mir etwas sagt, drücke ich ab – damit ich die Unübersichtlichkeit der Dinge wieder einmal sehen kann.“

Bevor ich das Bildschirmfoto machte, wählte ich den Bildbereich aus. Ich wollte das Foto, die Meldung nicht beschneiden, also tat ich es nicht, und so kam der Peinliche Iran-Patzer mit ins Bild. Eine Eilmeldung, der Tod von CW, darunter eine andere Meldung und daneben etc. Ich rief faz.net auf und machte ein Bildschirmfoto, das mir besser gefiel.

Das war automatisiertes Handeln, das sind all die Handlungen, die die Arbeit am Rechner mit sich bringt. Meine Assoziationen sind auf dem absteigenden Ast, stattdessen gerät mir das Denken zu einer Reihe von durch Links verknüpften Vorgängen, denen immer eine klickende Hand die Richtung weist. Und die Suche in der echten Welt, in der Wohnung, in der Tasche ist eingeleitet durch das Denken der Tastenkombination Apfel und F, und ich stehe in der Wohnung kurz ratlos herum, weil die Wohnung eben kein Rechner ist und meine Ordnung keine ist, jedoch allmählich eine wird.

Jedenfalls ist CW tot und gerade erst ist Kittler gestorben, also dorthin gegangen, wo die Meisten sind, wie es im Nachruf der FAZ stand, also ist auch CW dort, wo die Meisten sind, was tröstlich sein könnte.

Ich denke an den Freund von A, der einen Stapel antiquarischer Kindheitsmuster nach einer Lesung aus einem bedeutend neueren Buch vor Christa Wolf legte und sie bat, alle Bücher für seine Freunde zu signieren. CW musste den Namen des jeweiligen Freundes schreiben und ihre Unterschrift und das Datum und bekam darüber nicht die beste Laune, aber natürlich bekommt man gute Laune, wenn man denkt, wie ein großer Stapel Kindheitsmuster zu ihr getragen wird und zur Signatur überreicht und nachher verschenkt mit Signatur und gelesen etc.

Und ich dachte an ihre Geschichte „Unter den Linden“, aus der ich erst vor ein paar Tagen einen Satz für einen meiner Texte abgeschrieben hatte: „Mir war nicht ganz geheuer, als ich meinen Weg wieder aufnahm. Immer hatte ich geahnt, daß diese Straße in die Tiefe führt. Ich brauchte nur rechterhand durch das schmiedeeiserne Tor in den Innenhof der Staatsbibliothek einzutreten, den ich übrigens nicht erkannte. Aber es verlangte auch niemand von mir, daß ich mich erinnerte. Ich hatte nur weiterzugehen, auf den grünblau gekachelten Brunnen zu, hatte seinen Rand zu übersteigen und unterzutauchen. Man macht sich übertriebene Vorstellungen davon: Es ist einfach, man muß es sich nur oft genug und dringlich gewünscht haben.“ Diese Geschichte, in der es heißt: „Nicht mehr bin ich an die Tatsachen gekettet. Ich kann frei die Wahrheit sagen.“

Ich mag, was sie sah, und dass sie versuchte zu sehen, was sie alles nicht sehen konnte und immerzu sah und wusste, dass sie manches nicht sah.

Ich denke an den Text „Blickwechsel“, in welchem sie als junges Mädchen flach auf einem Feld lag und mutig war und so in Angst, dass alle Angst verbraucht war und höchste Gegenwart entstand; sie blickte dem feindlichen Flieger ins Gesicht und sah den Feind ganz deutlich, und es geht wirklich immer um das Sehen. Man muss alles sehen, aber kann nicht alles sehen und weiß dann auch wieder nicht, was man sieht, muss sich jedoch entscheiden, wogegen Getrude Stein, die ja auch bei den Meisten ist, Einspruch erheben würde, aber zugleich sich selbst widersprechen müsste, da sie sich zu jeder Zeit meisterhaft entschied und nur vor sich den Eindruck erwecken konnte, sie habe sich keinen Deut entschieden.

Und ich denke an CWs Text über einen Tag im Oktober und an die Frage: wie viele Taschen hat ein Tag. Dieser von ihr beschriebene hatte viele, unglaublich viele. Ich nahm ihre Geschichte für bare Münze, fast jede ihrer Geschichten, jedes ihrer Bücher für bare Münze, und ich versuchte und versuche, solche Tage auch hinzubekommen, aber mir ist ein Arztbesuch mit Kind am Tag schon genug, da sind dann die Taschen des Tages schon gut gefüllt und es lässt sich nicht mehr viel Welt in sie stopfen. Meine Taschen sind manchmal so klein. Sie hatte beneidenswert große Taschen, und natürlich lese ich sie, um meine Taschen zu dehnen, denn ich lese nicht zum Spaß.

Es ist wie Flusser es sagt: „Wir sind alle Scheiterer, und zwar deshalb, weil wir wissen, dass wir sterben werden. Aber nicht unser eigener Tod ist der Grund unseres Scheiterns, sondern der Tod aller jener, die wir lieben und mit denen wir in Freundschaft verbunden sind.“

Und es geht immer so weiter, die Leute sterben und sterben, und es liegt viel Trost im Leben und Lesen.