Vom Verlassen der Welt

kann grad nicht / Sie Vollhonk

Sie haben zum Kommunikationsverhalten von Frauen und Männer geforscht. Gibt es da Unterschiede?

Bei vielen technischen Entwicklungen sind die Teams hauptsächlich mit Männern besetzt. Wir haben das umgedreht und haben Frauen als Entwicklerinnen einbezogen. Dabei haben wir gemerkt, dass Frauen andere Themen einbringen.

Zum Beispiel?

Jüngere Frauen spüren einen starken Druck, ständig auf Facebook präsent zu sein. Ältere glauben, wegen der Kinder ihr Handy nie ausschalten zu können.

Männer müssen doch auch Job und Familie vereinbaren.

Männer haben das auch bestätigt, aber nicht aktiv genannt. Frauen wünschen sich stärker als Männer so etwas wie eine Etikette: Was ist höflich in der modernen Kommunikation? Und sie haben eine App vorgeschlagen, die Störgeräusche simuliert. Dann können Sie dem Anrufer sagen, den Sie nicht einfach so abwimmeln können: Ich kann Sie gerade nicht verstehen …

aus: Taz-Interview mit Jette Jost.

Kategorie: charmante Lügen/tell me lies, tell me sweet little lies.

Kategore: totaler Quatsch

Kategorie: Entwicklung einer App, die nichts Konstruktives in sich birgt.

Wichtiger wäre die App, die hilft, die Wahrheit zu sagen (Wahrheit stand gerade noch in Gänsefüßchen, aber die habe ich dann doch gelöscht, denn warum nicht Wahrheit schreiben), also: Ich kann grad nicht. Ich arbeite am Wochenende nicht. Unsere Zusammenarbeit funktioniert nicht. Rufen Sie mich nicht mehr an. I would prefer not to. Ich gehe nicht gern mit dir aus. Unsere Freundschaft ist ein todträges Ding. etc.

Das App ist der potenzierte, entmenschlichte Bartleby.

And so boring. Letztendlich wirklich langweilig.

Allgemein Buch und Bücherei

Rosetta – Kennen Sie den?

Denken an den Rosetta-Stone im British Museum hinter Glas, wirklich explizit gechützt im Gegensatz zu vielen anderen Exponaten, die herumstehen wie Besucher. Oder fast so. Die Menschen drücken sich gegen die Scheibe, der Stein ist einfach nicht erreichbar, man kommt zwar mit Blicken durch Glas, aber man kann mit den Blicken den Händen keinen Weg bahnen. (Kurz denken an diese Annahme: Wenn das Licht sich viel langsamer bewegte, bestünde die Wahrscheinlichkeit, dass man beim Laufen gegen eine Mauer ja doch einmal hindurchkäme – ohne Schaden zu nehmen – weil es eben aufgrund der Anordnung der sich bewegenden Teilchen dann gerade möglich wäre.)

In Gedanken den Stein berühren, die Schrift, die Zeit, die Ewigkeit (in etwa), Geschichte und Bedeutung etc. Aber eben nur in Gedanken. Im Nachbarsaal – Enlightenment – die Kopie des Rosetta-Stones, täuschend echt, eine Überraschung, die (so steht es auf einem Schild) berührt werden darf. Und das ist, als berührte man etwas Echtes, das Unerwartete und Heilige am Wegesrand, das Unfassbare, ein Ereignis, aber es ist auch so, als berührte man einen Witz.

Lieblingssatz

how to not to/ how to

„My performance was to turn on a radio and have a six-person work crew come in and clean up while the audience sat in the bleachers, drinking, talking, and waiting for the next performance.“ (Coleen Fitzgibbon in Bomb Nummer 123, Frühling 2013)

Buch und Bücherei Voraussetzungen des Erfolgs

Zu Amazon

Oder eben mal nicht zu Amazon. Und wie ging dieser Witz, der so endet: Zu Aldi. Was, schon zu?

Also, ganz ohne Pointengespür, man muss nicht bei Amazon kaufen, und wenngleich Thomas Wagner hier gerade betont, man solle als Ausweg aus dem Amazon-Dilemma den Menschen nun nicht nur als Konsumenten sehen, sondern ihn auffordern, sich in Buchhandlungen vor Ort zu engagieren, diese also gewissermaßen als Orte des persönlichen und gesellschaftlichen Interesses betrachten, muss auch der Konsument betrachtet werden. Und diesem muss klar gesagt werden, dass er auch woanders Bücher bestellen kann. Erstens kann er jede Buchhandlung anrufen und sie bestellt ihm alles (fast) bis zum nächsten Tag. Zweitens kann er zu jpc oder kohlibri. Um nur zwei Beispiele zu nennen.

Man nimmt dafür zuweilen Wege in Kauf, man nimmt in Kauf, manchmal (bei fremdsprachigen Büchern oder CDs) mehr zu bezahlen.

Man muss sein Gewissen trainieren. Man darf nicht nachgiebig sein. Klicken ist eine Handlung, die für markante Resultate sorgt. Klicken kann Riesen machen. Man muss nicht boykottieren, aber man darf boykottieren. Man könnte erst dann bei Amazon kaufen, wenn es wirklich nicht anders geht. Meistens geht es anders. Man kann auch verzichten. Es ist nicht das relevanteste Wissen, jenes Wissen darum, dass es ein Produkt erstens gibt, zweitens doch gibt, drittens in der Wunschfarbe, viertens in der passenden Größe, fünftens zum Schnäppchenpreis, sechstens ohne die maulende Verkäuferin. Man kann sich sagen: Das weiß ich nun, aber: Danke, nein. Man muss den wirklichen Preis kennen. Man kann klüger kaufen. Mal hier, mal dort. Man muss mit maulenden Menschen nicht immer, aber könnte mit ihnen ins Gespräch kommen. Ich bin dafür, die Angestellten zu fragen, wie zufrieden sie mit ihrem Arbeitgeber sind. Man sollte versuchen, dort zu kaufen, wo zufriedene, wenigstens nicht vom Arbeitgeber im Unglück und Knebelung gehaltene Angestellte arbeiten. Man sollte dort kaufen, wo freie Menschen arbeiten. Das gilt für Bücher, gilt für alles. Man kann und muss sich erziehen.

Allgemein

Amanda Palmer zum Internationalen Frauentag

Amanda Palmer

Und heute kamen so zufällig die tollsten Frauen vorbei, das ist ein Glück, und wie schön, dass es die tollsten Frauen gibt. Power Rangers in their hearts and minds, die besten Power Rangers, die eigentlichen – und ich übersetze ein Manifest, und es ist gut.

Allgemein Vom Verlassen der Welt

Ernstens kleine Rutschpartie

 

 

 

 

 

 

 

Ich fuhr mit dem Zug nach London und zurück. Ich dachte darüber nach, wie es ist, mit diesen Mitreisenden, die in diesem Fall Fußballfans waren, und ich ärgerte mich nicht, dass sie laut waren und wirklich dummes Zeug redeten, dazu auch sehr lustiges Zeug, ich wurde eher traurig, weil es mir auf einmal so aufwendig vorkam, wie sie sich ihr Hochgefühl organisieren mussten, wie aufwendig sich viele irgendein Hochgefühl und Ereignis organisieren müssen, das ist ein krankes Resultat aus der Einteilung des Lebens in Dienst und Schnaps oder schönste Zeit und Ernst des Lebens etc.

Beeindruckend jedenfalls war der junge Mann, der in London Vauxhall einfach auf der spiegelblanken Fläche zwischen den beiden Rolltreppen nach unten rutschte: breitbeinig, fast fliegend, und irgendwie, ich weiß wirklich nicht wie, kam er ohne sich den Hintern zu verletzen über die Notbremsenknöpfe und Warnschilder hinweg, die auf dem Metall angebracht waren, oder er benutzte sie als Rampe. Er lachte, der war so glücklich, und so glücklich würde ich auch gern sein, vielmehr: eine solche Rutschpartie würde ich auch gern machen, aber mir fehlt die Geschicklichkeit. Wir auf der Rolltreppe nach oben sahen ihm staunend hinterher, seine Freunde lachten und freuten sich über ihn.

Es fehlt in den meisten Leben dieser Ausbruch, es fehlt so eine Seinsart, die weder Wahnsinn ist noch Übermut und nicht Rabaukentum und nicht Provokation und nicht Besäufnis als Freizeitgestaltung und als Seelenpflege und nicht Karneval und nicht Party, sondern Alltag, Teil eines Alltags, ich meine das, was wir den Kindern noch zugestehen: eben noch brüllen, dann schon lachen, ich meine eine sprunghaftere Kontinuität, eine Kontinuität, die spätestens aus der Draufsicht erkennbar ist, und ich meine einen neu zu definierenden, durchaus vergnügten Ernst des Lebens.

Leipzig

you make things so clear!

Die LVZ befragt Horst Wawrzynski, Oberbürgermeisterkanditat in Leipzig, nach der Wahl. Er unterlag Burkhard Jung, dem amtierenden Bürgermeister.

„Frage: Herr Wawrzynski, Sie wollten den Wechsel im Rathaus, sind am Ende aber klar gegen Burkhard Jung gescheitert. Sind Sie von Ihrem Abschneiden enttäuscht?

Wawrzynski: Knapp daneben ist auch vorbei. Ich hätte mir gewünscht, dass es anders kommt. Es war eine demokratische Wahl, die hat man zu akzeptieren. Das tue ich auch. Unterm Strich haben wir einen guten Wahlkampf gemacht, mehr war nicht zu erreichen.

Eine erste Analyse: Woran lag, dass Sie nicht gewonnen haben?

An den Wählerinnen und Wählern.“

Ja, so kann man das auch betrachten. Oder es lag daran, dass er mit „100 Lösungen für Leipzig“ in den Wahlkampf ging, aber doch nur 99 hatte. (Allerdings auch nur 99 Probleme.)

 

Buch und Bücherei

Geschäfte vor dem Mond

Hier, offensichtlich hinter dem Mond, erfahre ich erst heute, dass Amazon ZVAB gekauft hat, was mir doch recht betrüblich vorkommt, weil nun erstens die Alternativen beim antiquarischen Buchkauf im Internet weiter schwinden, und zweitens, weil ich einen Satz in meinem aktuellen Manuskript streichen muss, der mir gut gefiel. Diesen: „Wenn es nicht anders ging, kaufte sie weiterhin bei Amazon ein. Sie rechnete jeden Tag mit einer Mitteilung von ZVAB, dass ZVAB nun aufhöre, sie verlas sich auch, las im Betreff einer E-Mail Finaler Gruß aus dem Antiquariat und nicht Floraler Gruß aus dem Antiquariat…“ Oder doch nicht streichen? Nun, das kann zu gegebener Zeit entschieden werden. Aufschub duldet aber nicht die Abschaffung der Generosität gegenüber dem Interpretationsspielraum der eigenen Prinzipien, die Hannes Hintermeier in der FAZ am 8. Februar so beschrieb: „So sprach neulich ein bekannter Sachbuchautor, der lieber nicht genannt werden will: Er hasse Amazon, wirklich aufrichtig und mit allem Nachdruck. Man müsse sich mit aller Gewalt gegen diesen Monopolisten stemmen. Freilich, wenn er ein Buch wolle, sage er einfach seiner Frau Bescheid und die bestelle es für ihn – bei Amazon.“

Und wenngleich es unglaublich erscheint, gibt es ja alle Nase lang Leute, die dermaßen in Prinzipienhoheit stolzieren und ihnen wächst nie eine Lügennase, und kein Zweifel kratzt sie.

Jedenfalls ist die Vorherrschaft Amazons mittlerweile nicht mehr kleinzureden, aber ich trage auch zu dieser Vorherrschaft bei und will manchmal den Buchhändlern oder Antiquaren vor Ort nicht begegnen oder kann ihnen dann, wenn ich ihnen begegnen könnte, nicht begegnen. Interessant zu Amazon auch Roland Preuß‘ heutiger Artikel in der FAZ: „Nicht ohne Ironie ist, dass die älteste deutsche Universitätsbibliothek, die Heidelberger, ihren Online-Katalog mit Amazon-Bildchen schmückt, die die Studenten, ohne dass sie eigens darauf hingewiesen würden, bei Klick direkt auf die Seite des Luxemburger Steuerumgehungskonzerns lenken, wo sie neuerdings vom ‚Amazon Student‘-Dienst ‚abgeholt‘ werden.“ (13. Februar 2013, Feuilleton, S. 25) Das darf so nicht sein.

Natürlich geht es Amazon nicht ums Lesen, es geht Amazon nur um den Anfang und die ewige Wiederholung dieses Experiments, Bücher eben an Regentagen kaufen zu können, ohne dafür das Haus verlassen zu müssen. Dazu um andere Experimente am Menschen, aber eben nicht ums Lesen. Sagt mir mein Verstand, der, anders als der bekannte Sachbuchautor von oben – genannt werden will.

Vom Verlassen der Welt

I am a center survivor

Jedes Einkaufszentrum, das ich kenne, ist am Ende. It’s the end of the mall: It’s the end of them all (mal bei Kristin Hersh gelesen.) Und egal, wie neu die Center sind, sie sind immer gleich schnöde und räudig, und jeder Schmutz fällt auf und stört. Da knicken die Enden der angespitzten Zierpflanzen ab und werden leicht braun, und im Wasserbecken, das wohl eine Schrittbremse sein soll und deshalb im Weg liegt wie ein Teppich (Kurzflor, triefend nass), sammeln sich Kaugummi und Dinge, die man nicht benennen kann, die aber nicht vorgesehen waren, darin, und in den Architektenträumen. Das Wort Kopfgeburt fällt mir ein, aber es will mir nicht bedeuten, was es bedeutet, also hätten diese das Center entworfen habenden Köpfe geboren, dann wäre ja etwas entstanden, ein Kopfleben, aber sie gebaren nicht.

Im Center alles trist und nur die Jugend sitzt herum und ist kraftprotzend und will im Kinderkino fummeln, was eine Aufpasserin durch Rufe unterbindet. Im Kinderkino jedenfalls liegt eine müde Mutter auf dem platten Sitzkissen, hat sich zugedeckt mit ihrem Parka, der Sohn erhebt sich vom Sitzkissen neben ihr, um mit seinem Auto zu spielen, aber er wird wieder ins Liegen befohlen. Alle sind ewig dort, alle sind für immer im Center. Dem Center kann man immer nur gerade noch entkommen. Und kranke Kinder halten ihren Mittagsschlaf auf runden, weich gepolsterten, abwischbaren Sitzinseln neben dem virtuellen Aquarium.

Buch und Bücherei

Lesen mit und ohne Platz

 

 

 

 

 
 

Ich habe gestern ein Buch von Christoph Hein gekauft, hauptsächlich, weil es voller Randnotizen ist. Ich lese, was da an den Rand geschrieben wurde, lese dann Heins Text und prüfe, wie eines zum anderen passt und überlege, wer da wohl geschrieben hat und mache mir ein kleines Bild von dieser Person, die es übrigens in der Mitte des Buches aufgab, sich weiterhin Notizen zu machen. Ob sie auch aufhörte zu lesen? (Man muss ja Bücher nicht auslesen.)

Schön ist es jedenfalls, wenn man sich überhaupt am Rand Notizen machen kann, wichtig ist es, weshalb ich über eines meiner Lieblingsbücher (Ahrendt, Vita activa) ja doch immer ein wenig schimpfe. Was muss es auch so dicht und fast bis an die Seitengrenze bedruckt sein:

Bei Reclam-Heften sieht es nicht besser aus, weshalb ich, im Anmerkungs- und sicherlich auch Memorierungswahn, bei Schillers „Über naive und sentimentalische Dichtung“ dazu überging, schließlich fast alles auf kleine Notizzettel zu übertragen und diese aneinandergeheftet ins Buch zu kleben. Das hielt ich immerhin bis S. 41 durch. Ab S. 42 unterstrich ich und schrieb wenig an den Rand, viel ging ja nicht. Ab S. 80 finden sich keine Unterstreichungen, Zettel oder Anmerkungen mehr, was wohl bedeutet, dass ich das Buch nicht ausgelesen habe. Tja.

Jedenfalls denke ich an einen Abend in meiner kalten Studentenwohnung, mit mir zwei Kommilitonen, die sich in den Hölderlinturm wünschten und die Freundin C, die derlei Weltfremdheit nicht verstand, die diesem Wunsch nach Ideal und Zurückgezogenheit und eben Distanz zur Welt nicht guthieß, und ich, beides verstehend, beides wollend. Turm und Leben.

Dazu CW in Stadt der Engel, S. 367: „Da wurde mir bewusst, erinnere ich mich, dass ich gerne in meiner Zeit lebte und mir keine andere Zeit für mein Leben wünschen konnte.[…] Vielleicht sind die Explosionen in den Magistralen des Kapitals Zeichen von Endzeit, Jedenfalls für unsere abendländische Kultur, aber ich genieße die Annehmlichkeiten dieser Kultur, wie fast alle es tun.“